Auszug aus DIE VAGABUNDEN, Band 1
Das Mündel der Drachen
von Robert Corvus
»Ich hätte gern mein Leben für Euch gegeben, Herr.« Dewin fand den Mut, seinem Grafen direkt in die Augen zu sehen. Eine Nacht wie diese ließ keinen Raum für Schüchternheit.
Vierundzwanzig Jahre war dieser Krieger jung, dachte Graf Esmor von Glanzweiden, der mehr als doppelt so viele Jahre gesehen hatte. Ein ungerechtes Schicksal hatte Dewin hierher geführt, an diese Brücke, wo das Richtige zu tun bedeutete, etwas auf schreckliche Weise Falsches zuzulassen.
»Niemand sollte gern sein Leben wegwerfen«, sagte der Graf. »Unser Leben ist der Rosenstock, aus dem alle Dornen, aber auch alle Blüten sprießen. All das Schöne, das Große, das wir hervorzubringen vermögen, wenn wir uns mühen.«
Der Schlag der vielen Dutzend Trommeln, der vom anderen Ufer des Schaumflusses herüberdrang, wurde schneller. Die Orks, die auf die gespannten Häute schlugen, steigerten sich in die Ekstase des bevorstehenden Kampfes.
Um die Flüchtlinge aus Kastell Sternenquell zu verfolgen, mussten sie über diese Brücke kommen. Sie wussten, dass die Menschen von Glanzweiden sie erwarteten. Beiden Seiten war klar, dass ein Gemetzel bevorstand, aber nur die Orks freuten sich darauf.
Es war Vollmond, oder, wie man im Norden sagte: Orkmond. Die Augen der Hauerfressen sahen bei solchem Licht so gut wie die eines Menschen bei Tag. Derartige Gelegenheiten nutzten sie am liebsten für ihre Angriffe. In der Nacht zuvor hatten sie das Kastell abgebrannt, sich besoffen an ihrem Sieg, geplündert und untereinander um die besten Beutestücke gerauft. Es hatte Stunden gedauert, bis ihre Späher die Nachhut der Fliehenden eingeholt hatten.
»Wir stehen hier, um das Leben derer zu verteidigen, die es nicht selbst können.« Ein Graf hielt viele leere Reden, aber diese Worte waren wahr und fest.
In Sternenquell waren nicht nur Krieger stationiert gewesen. So weit in der Wildnis musste sich ein Außenposten selbst versorgen. Dafür benötigte man Bauern mit ihren Familien, und die brauchten Schmiede, Tischler und andere Handwerker. Eine Stadt war gewachsen. Vor zwei Tagen noch eine trügerisch lebhafte Siedlung, sogar mit einem kleinen Theater. Inzwischen Asche, die im Wind trieb.
Graf Esmor hatte die Überlebenden mit ihren Karren und dem letzten Vieh über die Steinbrücke geführt, die grau im Mondschein vor ihm den Fluss überspannte. Die Zollhütte sah unpassend klein aus. Die beiden Männer, die dort Münzen für die Grafschaft gesammelt hatten, waren nun Teil des Heers. Eine Entscheidung, die ihr Todesurteil war, wie sie nach dem anfänglichen Überschwang wohl auch selbst begriffen.
»Ich würde alles geben, um Euch zu retten«, sagte Dewin.
»Das weiß ich, und ich bin stolz, solche Treue gefunden zu haben.« Klackend legte Graf Esmor seine gepanzerte Hand auf ein Schulterteil der Rüstung des jungen Kriegers.
Dewin hatte dunkle Augen und dünne Brauen. Der Helm mit dem Wangenschutz verbarg den Großteil seines dunkelblonden Haars. Ein schmucker Jüngling, auf dem sicher auch der Blick der Maiden gern ruhte.
»Meine erste Tochter ist in deinem Alter«, murmelte Esmor.
»Zweifellos wird Euch die Prinzessin Ehre machen.«
Esmor nickte versonnen. Jiszilietta hatte alles, was man sich von einer jungen Adligen wünschen konnte. Dennoch – oder vielleicht deswegen – war sie ihrem Vater stets fremd geblieben. Jede Geste, jedes Wort, jedes Lächeln wog sie sorgfältig ab. Sie dachte sich ihren Weg durchs Leben, wo Esmor seinem Herzen folgte.
Noch immer sah Dewin seinem Herrn in die Augen. »Viele sagen, Euer gräfliches Blut sei zu kostbar, um vom Schaumfluss fortgespült zu werden.«
»Ich muss hier sein«, widersprach Esmor. »Ein Graf muss die schützen, die ihm anvertraut sind.«
»Ist das nicht die Aufgabe seiner Krieger?«
Er lächelte freudlos. »Ohne mich wärt ihr nicht mehr als eine Handvoll.«
Dewin blickte zur Seite. Er musste begreifen, dass die Anwesenheit des Grafen den fünfundsiebzig Freiwilligen den Mut gab, sich den Orks zu stellen. Die meisten gehörten zur gräflichen Leibgarde, aber auch nicht wenige aus dem Kastell waren darunter. In dieser Nacht machte es keinen Unterschied.
Esmor atmete tief ein und erlaubte sich die Hoffnung, dass sie siegen, die Orks an dieser Brücke zurückschlagen könnten. Ihnen die Hauer ausreißen, den Stahl durch die graugrüne Haut treiben, sie in den Strom werfen. Dann würden die überlebenden Krieger die Veteranen der Schlacht vom Schaumfluss sein, ganz gleich, was sie bisher gewesen waren. Er könnte sogar einen gräflichen Orden für sie stiften …
Keiner war so leichtsinnig, seine Rüstung abzulegen. Einige versuchten dennoch, auf dem Boden liegend oder an einem Baum lehnend zu schlafen. Der Marsch hatte sie alle erschöpft.
Er atmete aus. Die Trommeln ließen keinen Zweifel daran, welche Masse an Hauerfressen sich sammelte. In diesem Kampf war nur Zeit zu gewinnen. Aber die mochte das Leben für die Fliehenden bedeuten, die schon einen halben Tag Vorsprung hatten.
Die Vorposten, drei leicht gerüstete Krieger, preschten auf Reitechsen, die sich in schnellem Lauf weit nach vorn neigten, über die Brücke. Die Schuppenhäute der zweibeinigen Tiere schimmerten im Mondlicht.
Niemand brauchte die Meldung abzuwarten. »Schlachtreihen bilden!«, rief Esmor.
Er hatte die Positionen der Krieger schon vor Stunden zugeteilt. An der Brücke nahmen fünf Reihen Gepanzerter Aufstellung. Die Vordersten waren mit Schilden ausgerüstet, für den Fall, dass die Orks Fernkampfwaffen einsetzten, obwohl das unwahrscheinlich erschien. Die übrigen trugen Zweihandwaffen, die meisten langstielige Mordäxte, einige auch Spieße mit Dreikantspitzen.
Die Bogenschützen sammelten sich in einem Pulk an der linken Flanke, wo sie den Mond im Rücken hatten, direkt am Fluss. Schon an den Schattenrissen erkannte man, dass sie seit früher Jugend an ihrer Waffe übten: Rechts war die Schulter- und Oberarmpartie eines Schützen stärker als links.
Esmor zog sein Schwert und ging zu ihnen.
Die Vorposten sprangen von ihren Reitechsen und gliederten sich ein.
Esmor überlegte, zu befehlen, die Tiere von den Sätteln zu befreien und sie fortzujagen, damit sie nicht den Orks in die Hände fielen. Man sagte, die Hauerfressen ließen ihre Grausamkeit nicht nur gefangenen Menschen, sondern allem angedeihen, was Schmerzensschreie ausstoßen konnte.
Aber vielleicht würde eine der Echsen einem seiner Untergebenen die Flucht ermöglichen, wenn alles vorbei und entschieden wäre. Also ließ er zu, dass sie angepflockt wurden.
An der anderen Seite der Brücke bewegten sich Schatten, ein ungeordneter Haufen, wie die Orks es gern hielten. Bei ihnen gierte jeder danach, seinen Mut zu beweisen. Als Taktik galt die Kunst, die unbezähmbare Gewalt halbwegs in die gewünschte Richtung zu lenken, so wie man versuchen konnte, einen Fluss einzudämmen, dem Wasser aber doch seinen Weg erlauben musste.
Die Bogenschützen legten die Pfeile auf die Sehnen.
»Noch nicht!«, rief Esmor. »Niemand schießt!«
»Herr?«, fragte Dewin überrascht. Der junge Krieger betrachtete sich wohl als persönliche Leibwache.
»In einer solchen Lage schicken die Orks zuerst ihre Alten«, erklärte Esmor. »Ihr Ansturm soll die Stärke des Gegners auf die Probe stellen. Ein letzter Dienst am Stamm, bevor sie ihm zur Last fallen würden. Aber mit denen werden unsere Nahkämpfer allein fertig.«
Das Gebrüll kündete dennoch von wilder Entschlossenheit. Mit Haumessern und Keulen krachten die Orks gegen Glanzweidens Kampfreihen.
Auch die Menschen schrien. Mordäxte spalteten Schädel, zertrennten Arme, brachen Knie.
Die Orks schlugen ebenfalls Wunden, aber die Reihen der Verteidiger wankten nicht. Sie bargen die Verletzten und reichten sie nach hinten zu den Feldscheren durch, schlossen die Lücken und erhöhten den Hügel aus Orkleichen vor sich. Manche fielen in den Fluss.
Eine deutlich abgesetzte zweite Welle rannte heran. Das waren die jungen Krieger des Stammes, die sich ersten Ruhm erkämpfen wollten.
»Schießt!«, befahl Esmor.
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